Jamey – Das Kind, das zuviel wusste
Bearbeitete Fassung des Romans „Over The Edge“ von Jonathan Kellerman.
Ein Hörbuch von Lübbe Audio.
Gelesen von Reent Reins.
Umfang: 6 Audio-CDs.
Erstveröffentlichung: 2008.
Laufzeit: ca. 465 Minuten.
ISBN-Nummer: 978-3-7857-3524-4.
Inhaltsangabe des Verlags:
Der siebzehnjährige James leidet unter Wahnvorstellungen. Verzweifelt wendet er sich an den Psychologen Alex Delaware, doch bevor der ihm helfen kann, ist Jamey verschwunden. Gefunden wird er schließlich an einem Tatort – neben zwei schrecklich zugerichteten Leichen und mit einem Messer in der Hand. Delaware versucht, James Geheimnis zu ergründen und merkt viel zu spät, daß er in ein Wespennest gestochen hat…
Rezension von Ronny Schmidt:
Er ist Kinderpsychologe, der zu den angesehensten psychologischen Beratern des Kammergerichts von Los Angeles zählt und Fachbücher veröffentlicht.
Fachbücher? Nicht nur. Er ist zudem Autor bereits zahlreicher Kriminalromane, der bereits zu Beginn seiner literarischen Karriere mit dem Edgar Allan Poe Award und dem Anthony Award ausgezeichnet wurde und auch die New York Times frohlocken und zu einem Statement „Kellerman weiß, wie man Leser süctig macht“ hinreißen ließ. Zu recht, wie die vorliegende Produktion beweist.
In „Jamey – Das Kind, das zuviel wusste“ wird der Hörer mit einer in Populärkrimis eher vernachlässigten Art „Detektiv“ in einen Strudel aus Habgier, Macht und regelrecht erschreckendem Moralverfall geschickt. Ohne etwas von der Handlung verraten zu wollen, fragt man sich, wieviel unmenschliche, verstörende Schiksale Kellerman gesehen haben mag, um eine derart erschreckende, indes (leider) denkbare Handlung zu ersinnen.
Kellerman ist kein Freund aalglatter, fehlerfreier Charaktere. Zumindest fast. Neben der Ausnahme des noch etwas zu „glatten“ Psychologen Alex Delaware etablierte er hier einen homosexuellen Polizisten zu einer der Hauptfiguren – und das bereits 1987. Diesen baut er allerdings nicht als „Klischee-Tunte“ auf, sondern als dreidimensionalen Charakter.
Selbiges gilt für die Charakterisierung Jameys. Hier zahlt sich Kellermans berufliche Erfahrung und sein Wissen aus: Das Abdriften in den Wahnsinn des Jungen gelingt schmerzlich überzeugend. Man erfährt die Hintergründe, die Anfänge und bekommt den weiteren Verlauf fundiert und überzeugend vermittelt, so daß sich auch der Charakter Jamey nicht als Klischeeinkarnation entpuppt, sondern als komplexe Figur, die zwar größtenteils den Szenen absent ist, gleichsam eine Art „subtile Dauerpräsenz“ vermittelt und den Hörer am Ende nicht unbedingt mit einem Glücksgefühl entlässt.
Einzig störend: Bei der Übersetzung schlichen sich einige Ungeschicklichkeiten ein: Ich wage zu bezweifeln, daß Alex Delaware beispielsweise tatsächlich seinen „Motor anzuündet“ und dann losfährt und eine Kassette einlegt. Obschon die Vorstellung, der Psychologe mit dem brennenden Motorblock, der durch die Straßenschluchten der Großstadt fährt, recht amüsant ist (allerdings natürlich nicht zum Grundton der Erzählung passt)…
Als Leser wurde Reent Reins verpflichtet – und für mich ist Reins nicht mehr und nicht weniger als ein absoluter „Geheimtipp“ dieses Jahres. Was er für „Jamey“ abliefert, ist schlicht außergewöhnlich. Reins dürfte den meisten 80er-Fans noch als Synchronsprecher von Don Johnson in der TV-Serie „Miami Vice“ bekannt sein, doch als Schauspieler ist er selbst natürlich zu wesentlich mehr in der Lage. Zu wieviel mehr, das beweist er hier in beeindruckender Weise. Reins spielt die einzelnen Charaktere, jede Figur bekommt eine ganz eigene Coleur, selbst Dialoge zwischen den Charakteren lassen sich mühelos verfolgen, mehr noch: Durch Reins‘ Leistung wird aus der Lesung regelrecht das vielbemühte, in diesem Fall jedoch absolut treffende „Kino für die Ohren“. Egal ob der überhebliche Anwalt, der unter einer Psychose leidende Jamey, Delawares Ehefrau, Chauffeur, Rocker, Punk – Reent Reins fackelt ein regelrechtes Feuerwerk ab und stellt sich somit selbst eine klare Empfehlung für weitere Lesungen aus.
„Jamey – Das Kind, das zuviel wusste“ entpuppt sich trotz des Alters der Story auch heute noch als packender Thriller, der durch seine nahezu perfekte Verbindung von Krimi und wissenschaftlicher Sachkenntnis, sowie durch interessante Charaktere, Wendungen und einem verdammt bösen Plot besticht. Gespielt von einem beeindruckenden Reent Reins, der mit seiner glänzenden Leistung aus dieser Lesung einen „Hörfilm“ macht, bleibt einem Krimi- und Thrillerfan eigentlich nur eine Wahl: Einlegen und dieser Achterbahn aus Wahnsinn und moralischem Werteverfall zu folgen.
Damit wäre der erste von bis dato 22 Alex Delaware Fällen in Hörform erhältlich – zudem als „Budget Titel“. Und mir bleibt lediglich die Hoffnung zu äußern, daß Lübbe Audio diese Reihe weiter im Auge behält – eine Fortführung wäre nach diesem grandiosen Erstling äußerst wünschenswert.